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11.10.2021 – Es ist wissenschaftlich unbestritten, dass der Nutzen einer COVID19 Impfung bei weitem größer ist als ein möglicher Schaden durch Nebenwirkungen der Impfung – und das gilt auch oder gerade für Menschen mit chronischen Erkrankungen wie der Multiplen Sklerose. Dennoch sind Menschen mit MS derzeit verunsichert, da immer wieder behauptet wird, die Impfung gegen COVID19 würde MS Schübe bzw. Entzündungen im zentralen Nervensystem auslösen. 

Vor dem Hintergrund der bisher verfügbaren Daten zur COVID19 Impfung von MS Patienten – auch wenn diese noch begrenzt sind – sind solche Aussagen nicht haltbar – und schon gar nicht, wenn die Frage im Gesamtkontext unseres Wissens über die Auswirkungen von Impfungen auf MS Patienten betrachtet wird.

Für inaktivierte Impfstoffe, zu denen auch die Impfstoffe gegen COVID19 zählen, gibt es eine Reihe von Fall-Kontroll-Studien. Es konnte in diesen Studien nie ein kausaler Zusammenhang zwischen Impfung und Krankheitsaktivität gefunden werden (1). „Im Gegenteil“, so Prof. Mathias Mäurer, Sprecher des Fachausschusses Versorgungsstrukturen und Therapeutika des KKNMS, „es findet sich sogar eher Evidenz einer geringeren Krankheitsaktivität, denn Impfungen schützen nachweislich vor Infektionen oder schwächen sie ab und bieten damit einen „indirekten“ Schutz vor MS-Krankheitsaktivität, die häufig im Zusammenhang mit Wildtyp-Infektionen beobachtet wird“.

Eine Studie aus Israel zur COVID19 Impfung von über 500 Patienten mit MS ergab, dass im Zusammenhang mit der ersten Impfung mit dem Impfstoff von Biontech/Pfizer 2.1% der geimpften Personen mit MS einen Schub erlitten, nach der zweiten Impfung wurden bei 1,6 % der Kohorte MS-Schübe dokumentiert. Dieser Prozentsatz entspricht genau dem Anteil an MS Patienten mit Schüben im Vergleichszeitraum der Jahre 2017 – 2020, also vor Verfügbarkeit der COVID19 Impfung. Die Zahlen machen demnach einen kausalen Zusammenhang unwahrscheinlich (2).

Eine weitere Impfstudie aus Italien belegt diese Beobachtung. Zwei Monate nach der COVID19 Impfung von 324 Personen mit MS mit den Impfstoffen von Biontech/Pfizer und Moderna wurde bei 2.2% der Kohorte ein MS Schub dokumentiert, zwei Monate vor der Impfung erlitten 1.9% der Kohorte einen MS Schub. Auch diese Daten belegen, dass die Impfung nicht zu Veränderungen der Krankheitsaktivität führt und nicht als kausal für das Auftreten von MS Schüben angesehen werden kann (3).

Was die immer wieder im Zusammenhang mit der COVID19 Impfung befürchtete Akute Transverse Myelitis (ATM, eine akute Entzündung des Rückenmarks) angeht, so muss zunächst klargestellt werden, dass die meisten Fälle mit dieser Komplikation durch eine Infektion mit SARS CoV2 ausgelöst wurden (n = 43), wie kürzlich in einer Übersichtsarbeit dargelegt werden konnte (4). Lediglich 3 Fälle einer ATM wurden im Zusammenhang mit einer COVID19 Impfung beschrieben, und zwar ausschließlich mit dem Vektorimpfstoff von AstraZeneca, der für die Impfkampagne in Deutschland derzeit von untergeordneter Bedeutung ist. Es kann zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden, dass es sich bei den drei Fällen um eine immunologische Kreuzreaktion handelt, aber diese wenigen Fälle haben derzeit keine Aus-wirkung auf die grundsätzliche Nutzen-Risiko-Bewertung der COVID19 Impfung. Das belegt auch der aktuelle Sicherheitsbericht des Paul-Ehrlich-Institutes (PEI), der die bisher in Deutschland im Zusammenhang mit der Impfung aufgetretenen Myelitisfälle systematisch auflistet (5).

Natürlich gibt es in der Literatur auch Einzelfallberichte von schweren Schüben, die im zeitlichen Zusammenhang mit der COVID19 Impfung aufgetreten sind (6). Dies dürfte auch den individuellen Erfahrungen von Neurologen und Patienten in den vergangenen Monaten entsprechen. Man muss sich aber klarmachen, dass in einer Zeit, in der täglich tausende von Menschen geimpft werden, natürlicherweise ein zufälliger zeitlicher Zusammenhang zwischen den Impfungen und unterschiedlichen medizinischen Ereignissen beobachtet werden kann, ohne dass hierdurch direkt ein Kausalzusammenhang angenommen werden darf. Fragen kausaler Zusammenhänge können nur durch kontrollierte Studien beantwortet werden.

Angesichts dieser Sachlage sieht sich das Krankheitsbezogene Kompetenznetzwerk MS (KKNMS) und die Deutsche MS Gesellschaft (DMSG) zu folgender Stellungnahme veranlasst, die nach Frau Prof. Frauke Zipp (im Vorstand des KKNMS, des Ärztlichen Beirats der DMSG, und im Steuergremium des Beirats der MS Internationalen Föderation MSIF und für Impfempfehlungen [7]) den internationalen Impfempfehlungen entspricht:

  • Es gibt derzeit keine wissenschaftliche Evidenz, dass eine Impfung gegen COVID19 zu einer Aktivitätszunahme bzw. Schubhäufung bei MS führt.
  • Die MS stellt demnach keinen Hinderungsgrund für eine Impfung gegen COVID19 dar, der individuelle Nutzen der Impfung überwiegt das individuelle Risiko eines MS-Patienten.
  • Es mag dennoch (seltene) individuelle Konstellationen geben, in denen bei MS Patienten eine Impfung ausgesetzt bzw. verzögert werden muss. Diese Entscheidung sollte allerdings in Absprache mit einem erfahrenen MS-Behandler auf der Basis der individuellen Krankengeschichte getroffen werden. Von der Ausstellung pauschaler Atteste gegen eine Impfung, wenn der einzige Grund die MS-Diagnose darstellt, wird dringend abgeraten.
  • Ebenso wenig stellt die Anwendung einer MS-Immuntherapie – gleich welcher Art – eine Kontraindikation gegen die COVID19 Impfung dar. Die in Deutschland verwendeten Impfstoffen, bei denen es sich nicht um Lebendimpfstoffe handelt, können somit auch gefahrlos bei immunsupprimierten Patienten angewendet werden – und sollten dies auch aufgrund der o.g. Vorteile. 

Es besteht unter Behandlung allenfalls das Problem, dass die Impfantwort ggf. beeinträchtigt ist, weshalb Boosterimpfungen erwogen werden können. (s. Stellungnahme KKNMS vom 06.08.2021 (8)).

Eine hohe Beteiligung an der Impfbeobachtungsstudie des Dt. MS-Registers kann u.a. dabei mithelfen, die Fragen von Nebenwirkungen oder Schubereignissen im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung besser zu verstehen (https://www.msregister.de/sars-cov-2-impfung-bei-ms/).

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Der Abdruck ist frei.

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  • [1] Zrzavy T, Kollaritsch H, Rommer PS, Boxberger N, Loebermann M, Wimmer I, Winkelmann A, Zettl UK. Vaccination in Multiple Sclerosis: Friend or Foe? Front Immunol. 2019 Aug 7;10:1883. doi: 10.3389/fimmu.2019.01883. PMID: 31440255; PMCID: PMC6693409.
  • [2] Anat Achiron, Mark Dolev, Shay Menascu, Daniela-Noa Zohar, Sapir Dreyer-Alster, Shmuel Miron, Emanuel Shirbint, David Magalashvili, Shlomo Flechter, Uri Givon, Diana Guber, Yael Stern, Michael Polliack, Rina Falb, Michael Gurevich Mult Scler. 2021 May; 27(6): 864–870. Published online 2021 Apr 15. doi: 10.1177/135245852110034
  • [3] Di Filippo M, Cordioli C, Malucchi S, et al mRNA COVID-19 vaccines do not increase the short-term risk of clinical relapses in multiple sclerosis Journal of Neu-rology, Neurosurgery & Psychiatry Published Online First: 18 August 2021. doi: 10.1136/jnnp-2021-327200
  • [4] Gustavo C. Román, Fernando Gracia, Antonio Torres, Alexis Palacios, Karla Gracia, Diógenes Harris. Acute Transverse Myelitis (ATM): Clinical Review of 43 Patients With COVID-19-Associated ATM and 3 Post-Vaccination ATM Serious Adverse Events With the ChAdOx1 nCoV-19 Vaccine (AZD1222). Front Immunol. 2021; 12: 653786. Published online 2021 Apr 26. doi: 10.3389/fimmu.2021.653786
  • (5) https://www.pei.de/DE/newsroom/dossier/coronavirus/coronavirus-inhalt.html?cms_p…)
  • (6) Maniscalco GT, Manzo V, Di Battista ME, Salvatore S, Moreggia O, Scavone C, Capuano A. Severe Multiple Sclerosis Relapse After COVID-19 Vaccination: A Case Report)
  • [7] http://www.msif.org/wp-content/uploads/2021/06/June-2021-MSIF-Global-advice-on-C…
  • [8] s. Stellungnahme KKNMS vom 06.08.2021

Das Krankheitsbezogene Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) ist eines von bundesweit 21 Kompetenznetzen in der Medizin, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung initiiert wurden. Sie alle verfolgen das Ziel, Forscher zu spezifischen Krankheitsbildern bundesweit und interdisziplinär zu vernetzen, um einen schnellen Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis zu ermöglichen. Der Fokus der aktuellen KKNMS-Projekte liegt auf der langfristigen Verbesserung der MS-Diagnose, -Therapie und -Versorgung. Die Geschäftsstelle ist am Universitätsklinikum Münster angesiedelt.

1952/1953 als Zusammenschluss medizinischer Fachleute gegründet, vertritt die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) die Belange Multiple Sklerose Erkrankter und organisiert deren sozialmedizinische Nachsorge. Die DMSG mit Bundesverband, 16 Landesverbänden und etwa 800 örtlichen Kontaktgruppen ist eine starke Gemeinschaft von MS-Erkrankten, ihren Angehörigen, fast 4.000 ehrenamtlichen Helfern und 276 hauptberuflichen Mitarbeitern. Insgesamt hat die DMSG fast 43.000 Mitglieder. Mit ihren umfangreichen Dienstleistungen und Angeboten ist sie heute Selbsthilfe- und Fachverband zugleich, aber auch die Interessenvertretung MS-Erkrankter in Deutschland. Schirmherr des DMSG-Bundesverbandes ist Christian Wulff, Bundespräsident a.D.

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems (Gehirn und Rückenmark), die zu Störungen der Bewegungen, der Sinnesempfindungen und auch zur Beeinträchtigung von Sinnesorganen führt. In Deutschland leiden nach neuesten Zahlen des Bundesversicherungsamtes mehr als 250.000 Menschen an MS. Trotz intensiver Forschungen ist die Ursache der Krankheit nicht genau bekannt.

MS ist keine Erbkrankheit, allerdings spielt offenbar eine genetische Veranlagung eine Rolle. Zudem wird angenommen, dass Infekte in Kindheit und früher Jugend für die spätere Krankheitsentwicklung bedeutsam sind. Welche anderen Faktoren zum Auftreten der MS beitragen, ist ungewiss. Die Krankheit kann jedoch heute im Frühstadium günstig beeinflusst werden. Weltweit sind schätzungsweise 2,8 Millionen Menschen an MS erkrankt.