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15.02.2024 – Das Natalizumab-Biosimilar Tyruko® der Firma Sandoz ist seit dem 01. Februar 2024 in Deutschland zur Therapie der hochaktiven, schubförmig remittierend verlaufenden Multiplen Sklerose (RRMS) verfügbar. Es ist das erste zugelassene Biosimilar für die MS-Therapie und wurde im Herbst 2023 von der European Medicines Agency (EMA) autorisiert.

Der aktive Wirkstoff in Tyruko® ist Natalizumab, ein rekombinanter humanisierter Anti-α4-Integrin-Antikörper, der seit 2006 unter dem Handelsnamen Tysabri® (Firma Biogen) in der MS-Therapie zugelassen und zur Behandlung der aktiven, schubförmig verlaufenden MS etabliert ist. Natalizumab ist ein biotechnologisch hergestelltes Präparat, welches in einer murinen Zelllinie mittels rekombinanter DNA-Technologie hergestellt wird. Nach Auslaufen des ursprünglichen Patents hat die Firma Polpharma Biologics nun ein sogenanntes Biosimilar von Natalizumab entwickelt, d.h. ein Nachahmerpräparat, welches mit Hilfe gentechnisch veränderter lebender Organismen hergestellt wird und dem Originalpräparat ähnelt (Engl. „similar“). Es wird unter dem Handelsnamen Tyruko® von der Firma Sandoz vertrieben. 

Hierbei sind Biosimilars abzugrenzen von Generika, welche Nachahmerpräparate eines chemisch bzw. synthetisch hergestellten Originalpräparates sind, die eine identische Kopie des bereits zugelassenen Arzneimittels darstellen (siehe auch PM des KKNMS: Generika in der MS Therapie).

Das Natalizumab-Biosimilars Tyruko® wird in einer Chinese-Hamster-Ovary(CHO)-Zelllinie mittels rekombinanter DNA-Technologie hergestellt. Grundsätzlich kommt es bei der Herstellung von Biologika wie Natalizumab durch posttranslationale Modifikationen (z.B. Glykolisierung) zu einer gewissen Variabilität der Moleküle. Diese sog. Mikroheterogenität ist allerdings inhärent und ein natürliches Phänomen. Solange sich die Mikroheterogenität innerhalb eines vordefinierten Variabilitätskorridors bewegt, ist sie für die Wirksamkeit und Sicherheit des Biosimilars als unkritisch einzustufen. Hierbei sei nochmals betont, dass die Variabilität klar definierte Grenzen hat – sie darf nicht die Primär-, Sekundär- oder Tertiärstruktur des Referenzpräparates betreffen. Dies wird durch eine umfangreiche und redundante Analyse aller relevanten Qualitätsattribute von Biosimilar und Referenzbiologikum sichergestellt.

Ein Biosimilar unterliegt zudem denselben strengen Kontrollen bei der Zulassung wie ein Originalpräparat. Zur Feststellung der Wirksamkeit und Sicherheit des Natalizumab-Biosimilars wurde eine Phase-1-PK/PD-Studie sowie die randomisierte klinische Phase 3-Studie „Antelope“ durchgeführt (Hemmer et al. 2023). In dieser Vergleichsstudie wurden 264 erwachsene Patienten mit RRMS entweder mit dem Natalizumab-Biosimilar oder mit Natalizumab behandelt, um die Behandlungsergebnisse beider Präparate gegenüberzustellen. Bei der Untersuchung in Woche 24 war die kumulative Anzahl neuer aktiver Läsionen zwischen den Behandlungsgruppen ähnlich. Es wurden keine signifikanten Unterschiede zwischen den Behandlungsgruppen in Bezug auf Wirksamkeit, Sicherheit, Verträglichkeit oder Immunogenität festgestellt, sodass von einer therapeutischen Äquivalenz der Präparate auszugehen ist. Regulatorisch werden in der EU also Biosimilars den Originalpräparaten faktisch gleichgesetzt, die wesentlichen Vergleichsanalysen liegen im pharmakokinetischen sowie pharmakodynamischen Bereich. Hierzu bestehen vielfache Vorerfahrungen in der Onkologie oder der Rheumatologie.

„Die Resultate der Phase 3-Studie und die positive Bewertung der EMA macht die Markteinführung des Natalizumab-Biosimilars Tyruko® als erstes für die MS-Therapie verfügbares Biosimilar möglich und bietet somit eine kostenreduzierte Alternative zum Originalpräparat“, so Prof. Dr. Heinz Wiendl, Vorstandsprecher des KKNMS. Tyruko® 300 mg ist als Infusionslösung verfügbar und wird in der gleichen Dosierung und Behandlungsschema wie Natalizumab alle 4 Wochen als intravenöse Infusion verabreicht.

Aufgrund der Äquivalenz besteht auch bei Verwendung des Natalizumab-Biosimilar Tyruko® ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML), welche tödlich verlaufen oder zu schweren Behinderungen führen kann. PML wird durch das John Cunningham Virus (JCV) verursacht, sodass eine anfängliche und während der Behandlung regelmäßige Bestimmung des anti-JCV-Antikörper-Status mit einem JCV IgG (Immunglobulin G)-Test verpflichtend ist. Wie im KKNMS Qualitätshandbuch zu Natalizumab beschrieben, scheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Testung wie folgt sinnvoll:

  • zur Therapieentscheidung vor Beginn einer Therapie mit Natalizumab zur Spezifizierung der individuellen Risikosituation.
  • bei Patienten mit erhöhtem PML-Risiko unter Natalizumab, also Patienten mit einer vorangegangenen immunsuppressiven Therapie oder einer Behandlungsdauer mit Natalizumab von über zwei Jahren
  • bei zuvor negativ getesteten Patienten zur Erfassung einer möglichen Serokonversion (halbjährliche Untersuchung).

Die Firma Sandoz möchte zur Bestimmung des anti-JCV-Antikörper-Status einen alternativen Test (ImmunoWELL JCV IgG) zu dem von der Firma Biogen zur Verfügung gestellten Test (STRATIFYTM JCV DxSelectTM) anbieten. Bislang ist der ImmunoWELL JCV IgG-Test, der gemäß den medizinprodukterechtlichen Vorgaben in der EU entwickelt wurde, allerdings noch nicht verfügbar. Laut Auskunft der Firma Sandoz vom 08. Februar 2024 wird derzeit noch daran gearbeitet. „Zur Verwendung des Natalizumab-Biosimilars ist die freie Verfügbarkeit eines nachvollziehbar validierten Testkits eine Grundvoraussetzung“, so Prof. Dr. Ralf Linker, Vorstandsmitglied des KKNMS. 

Es lässt sich also festhalten, dass das jetzt verfügbare Natalizumab-Biosimilar sowohl hinsichtlich seiner Wirkung als auch seiner potenziellen Nebenwirkungen dem Referenzpräparat äquivalent ist. Nur unter der Voraussetzung der Verfügbarkeit des entsprechenden Sicherheitsmonitorings könnte auch dem neuen Natalizumab-Biosimilar ein ausreichendes Vertrauen für die klinischen Anwendung entgegengebracht werden – ähnlich wie dies auch in anderen Bereichen der klinischen Medizin bereits erfolgreich geschehen ist. Prof. Dr. Mathias Mäurer, Leiter der Task Force Versorgung und Therapeutika des KKNMS, betont: „Eines der wichtigsten Themen nach der Markteinführung des Natalizumab-Biosimilars ist die Patientensicherheit. Eine gute Arzt-Patienten Kommunikation, umfassende Aufklärung und engmaschige Betreuung sind hierbei essenziell, um Verunsicherungen und Vertrauensverlust zu vermeiden.“

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Der Abdruck ist frei.

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  • [1] Antelope Phase 3 RCT: https://jamanetwork.com/journals/jamaneurology/article-abstract/2800332
  • [2] Tyruko® Fachinformation EMA (deutsch): https://www.ema.europa.eu/de/documents/product-information/tyruko-epar-product-information_de.pdf
  • [3] Tysabri® Fachinformation EMA (deutsch): https://ec.europa.eu/health/documents/community-register/2020/20200423147685/anx_147685_de.pdf
  • [4] Biosimilars erklärt: https://www.vfa.de/de/wirtschaft-politik/abcgesundheitspolitik/biosimilars-schnell-erklaert.html
  • [5] KKNMS Qualitätshandbuch: https://ms-qualitaetshandbuch.de/wirkstoff/natalizumab/
  • [6] PM des KKNMS: 20.06.2022 – Generika in der MS Therapie

Das Krankheitsbezogene Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) ist eines von bundesweit 21 Kompetenznetzen in der Medizin, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung initiiert wurden. Sie alle verfolgen das Ziel, Forscher zu spezifischen Krankheitsbildern bundesweit und interdisziplinär zu vernetzen, um einen schnellen Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis zu ermöglichen. Der Fokus der aktuellen KKNMS-Projekte liegt auf der langfristigen Verbesserung der MS-Diagnose, -Therapie und -Versorgung. Die Geschäftsstelle ist am Universitätsklinikum Münster angesiedelt.

Krankheitsbezogenes Kompetenznetz Multiple Sklerose
Leitung der Geschäftsstelle: Dr. Zoë Hunter
info@kkn-ms.de
www.kompetenznetz-multiplesklerose.de