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02.06.2022 – Wer bereits morgens vom Stau weiß, meidet vielleicht die Autobahn. Wer aus der Vorhersage erfährt, dass ihm drei Wochen Regenwetter blühen, der sagt die Fahrradtour vermutlich ab. Schon bei solchen Kleinigkeiten richten wir uns nach Vorhersagen. Was wäre erst, wenn eine Prognose mich vor gefährlichen Nebenwirkungen schützen könnte? Im Hinblick auf die Multiple Sklerose (MS) hat ein Team unter Mitarbeit von Wissenschaftlern des Krankheitsbezogenen Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) aus der Forschungsprojektallianz „Prognostische und Therapeutische Marker“ nun einen möglichen Weg für solche Vorhersagen gefunden. Ihre Erkenntnisse – soeben veröffentlicht in der Fachzeitschrift BRAIN – können MS-Patienten helfen, die mit Alemtuzumab behandelt werden.

Eigentlich eliminiert dieser Wirkstoff Immunzellen, die das Molekül CD52 auf ihrer Oberfläche tragen; das sind vor allem T- und B-Zellen. So wirkt es gut und auch bei vielen Menschen nachhaltig gegen die schubförmige Multiple Sklerose. In einigen Fällen löst das Präparat im Laufe der Zeit aber ungefähr das aus, was es eigentlich bekämpfen soll: den Angriff des Immunsystems auf körpereigene Strukturen. Am häufigsten zeigt sich das in Erkrankungen der Schilddrüse, aber auch Schäden an Blutzellen oder der Niere können die Folge sein. 

Während ein „normales“ Medikament einfach abgesetzt wird, wenn Nebenwirkungen auftreten, ist das bei Alemtuzumab nicht möglich: Das Präparat wird idealerweise nur zwei Mal im Leben verabreicht und wirkt danach sehr langanhaltend. Es setzt das geschädigte Immunsystem von MS-Patienten zurück auf „Null“ und baut es dann wieder so auf, dass es funktioniert. Die beschriebenen Nebenwirkungen, auch „sekundäre Autoimmunität“ genannt, treten aber oft erst langfristig auf, zumeist zwei bis drei Jahre nach der Erstgabe. Da ist es für eine Therapieumstellung zu spät. Das Ziel muss daher sein, die Nebenwirkung frühzeitig zu erkennen und optimal zu behandeln. Dafür ist es entscheidend zu verstehen, was im Immunsystem des einzelnen Patienten abläuft, bevor er oder sie Nebenwirkungen entwickelt. „Neben der grundsätzlichen Entscheidung für oder gegen das Medikament ist der wohl kritischste Zeitpunkt das erste Jahr. Hier wäre es enorm wichtig, wenn wir das Risiko einer sekundären Autoimmunität erkennen oder einschätzen könnten“, erläutert Priv.-Doz. Tobias Ruck, Stv. Direktor in der Neurologie des Universitätsklinikums Düsseldorf.

Wie stellt man fest, ob jemand Gefahr läuft, sekundäre Autoimmunität zu entwickeln? Über zwei Jahre hinweg beobachteten Ruck und Kollegen Veränderungen in Blut- und Nervenwasser-Komponenten von MS-Patienten vor und nach einer Alemtuzumab-Behandlung. Dies war auch der zweite wichtige Schritt im KKNMS-Projekt PROGRAMS: 2019 hatten die Neurowissenschaftler bereits einen Biomarker entdeckt, mit dem sich das Risiko von Nebenwirkungen auf die Schilddrüse einschätzen lässt (Ruck et al., 2019). Nun nahmen sie den kritischen Zeitpunkt gegen Ende des ersten Therapiejahres unter die Lupe. Dabei verwendeten sie Methoden der „nächsten Generation immunologischer Analysen“, sagt Prof. Heinz Wiendl, Sprecher des KKNMS, der die Studie zusammen mit Prof. Sven Meuth konzipiert hat. Gemeint ist beispielsweise die tiefgehende Untersuchung verschiedenster Immunzellen mittels Durchflusszytometrie. Derart lassen sich Art und Funktionsweise zahlreicher Immunzelltypen im Blut oder Liquor in Minutenschnelle untersuchten.

Parallel betrachteten die Neurowissenschaftlerinnen und -wissenschaftler lösliche Proteine im Serum und Nervenwasser, um deren T- und B-Zellrezeptoren zu charakterisieren – sie sind so etwas wie der Fingerabdruck dieser Zellen. Die Kombination der Daten verschaffte den Forschenden einen umfassenden Einblick in die immunologischen Prozesse und die Dynamik, die eine Therapie mit Alemtuzumab in Blut, Liquor und dem zentralen Nervensystem auslöst. Wichtigstes Ergebnis: Die T- und B-Zellen, die später für die Entstehung der sekundären Autoimmunität verantwortlich waren, konnten schon vor der Therapie gefunden werden. Indem Alemtuzumab wirkt, hebt es die Fähigkeit des Immunsystems auf, diese ungünstige Ausgangssituation in Schach zu halten, so der Erklärungsansatz. Auf den Punkt gebracht: Das Medikament ist nicht Verursacher der sekundären Autoimmunität, sondern bewirkt, dass sie durch eine Einschränkung der Immunregulation bei einigen Menschen zutage tritt. 

„Man kann sich das vorstellen wie bei einem Teller mit einem Sprung. Der kann zerbrechen, wenn man ihn nur leicht anschlägt“, erläutert Prof. Heinz Wiendl

„Durch unsere Analysen sind wir dem Verständnis der Prozesse, die zur sekundären Autoimmunität führen, ein großes Stück nähergekommen.“ Im Rahmen der Projektförderung hat die Projektallianz „Prognostische und Therapeutische Marker“ stets neueste Methoden genutzt, MS-Therapien besser zu verstehen und ihr Risiko genauer einzuschätzen. Die Ergebnisse bilden nicht nur den vorläufigen Abschluss dieses Großprojekts. Sie lassen auch ein wenig in die Zukunft blicken: Nach Einschätzung des Studienteams kann das Repertoire an Antigen-Rezeptoren auf T- sowie B-Zellen Grundlage sein für eine Art Test, mit dem sich schon vor der Therapie das Risiko schwerer Nebenwirkungen einschätzen lässt. 

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Der Abdruck ist frei.

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  • Ruck, T., Barman, S., Schulte-Mecklenbeck, A., Pfeuffer, S., Steffen, F., Nelke, C., … & Wiendl, H. (2022). Alemtuzumab-induced immune phenotype and repertoire changes: implications for secondary autoimmunity. Brain145(5), 1711-1725.
  • Ruck, T., Schulte-Mecklenbeck, A., Pfeuffer, S., Heming, M., Klotz, L., Windhagen, S., … & Meuth, S. G. (2019). Pretreatment anti-thyroid autoantibodies indicate increased risk for thyroid autoimmunity secondary to alemtuzumab: a prospective cohort study. EBioMedicine46, 381-386.

Das Krankheitsbezogene Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) ist eines von bundesweit 21 Kompetenznetzen in der Medizin, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung initiiert wurden. Sie alle verfolgen das Ziel, Forscher zu spezifischen Krankheitsbildern bundesweit und interdisziplinär zu vernetzen, um einen schnellen Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis zu ermöglichen. Der Fokus der aktuellen KKNMS-Projekte liegt auf der langfristigen Verbesserung der MS-Diagnose, -Therapie und -Versorgung. Die Geschäftsstelle ist am Universitätsklinikum Münster angesiedelt.