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06.08.2021- Seit einem halben Jahr läuft in Deutschland die Impfkampagne gegen COVID-19. Nach anfänglich stockendem Verlauf und Konzentration auf die Gruppe der älteren Mitmenschen besteht mittlerweile ein breites Impfangebot für weite Teile der Bevölkerung. Auch viele MS-PatientInnen haben in diesem Zuge eine Impfung gegen COVID-19 erhalten – vor allem der mRNA-Impfstoff von Biontech/Pfizer wurde in Deutschland hierfür verwendet.

Es kristallisiert sich zunehmend heraus, dass die Entwicklung neutralisierender Antikörper gegen das Spike-Protein von SARS-CoV2 einen guten Surrogatparameter für einen effektiven Impfschutz darstellt, ein sog. „correlate of protection (CoP)” (1). Eine kürzlich publizierte israelische Studie bei MS-PatientInnen konnte zeigen, dass insbesondere PatientInnen, die mit dem S1P-Modulator Fingolimod und mit dem B-Zell depletierenden Antikörper Ocrelizumab behandelt wurden, eine niedrige bzw. fehlende humorale Immunantwort (Antikörper gegen das Spike-Protein) nach Impfung mit dem mRNA-Impfstoff von Biontech/Pfizer aufweisen (2). Eine italienische Studie, die die humorale Immunantwort von MS-PatientInnen, die mit mRNA-1273 (Moderna) und BNT162b2 (Biontech) geimpft wurden, verglichen hat fand 3,5-fach höhere Antikörperspiegel bei den mit mRNA-1273 geimpften Individuen, ein Unterschiede der sich auch für PatientInnen unter Fingolimod und CD-20-Antikörper bestätigte (3).

Der Befund einer verminderten humoralen Antwort ist nach den bisherigen Erfahrungen mit Impfungen unter verlaufsmodifizierenden Therapien der MS nicht ganz überraschend. Moderne MS-Therapien haben ein mehr oder weniger „selektives“ immunsuppressives Potential und können daher die Bildung von Antikörpern in unterschiedlichem Ausmaß beeinflussen. Hier liegen bereits für verschiedenen Impfungen Daten hinsichtlich des Ansprechens auf unterschiedliche Therapien vor (4).

Die Wirkung der COVID-19-Impfstoffe ist allerdings – auch mit Blick auf neue Varianten – gut belegt (5). Insbesondere die Schutzwirkung vor schweren Infektionen mit Hospitalisierung oder fatalem Verlauf – das primäre Ziel der Impfkampagne – ist über alle Bevölkerungsgruppen hinweg sehr hoch (6). Nachdem aber die Analyse von Impfdurchbrüchen zeigt, dass niedrige peri-infektiöse Antikörpertiter ein Infektionsrisiko mit SARS-CoV-2 darstellen (7) und schwere COVID-19-Verläufe trotz Impfung überzufällig häufig bei PatientInnen mit immunsuppressiver Therapie (u.a. anti-CD20) auftreten (8), sieht sich der Fachausschuss „Versorgungsstrukturen und Therapeutika“ des krankheitsbezogenen Kompetenznetzwerks MS (KKNMS) zusammen mit der DMSG veranlasst, zu diesem Thema eine Stellungnahme abzugeben:

  • Das KKNMS und die DMSG gehen davon aus, dass zunächst eine abgeschlossene COVID-19-Impfung (zwei vollständige Impfungen) auch bei Menschen mit MS und Immuntherapie ausreichend ist, um schwere COVID-19-Verläufe zu unterbinden. Menschen mit MS – gleich ob mit oder ohne Immuntherapie – wird daher dringend und mit generell hoher Priorität geraten, sich gegen COVID-19 impfen zu lassen (s. auch Stellungnahme des KKNMS „Empfehlung zur Corona-Impfung bei Multipler Sklerose (MS) vom 29.01.2021), da im kommenden Herbst und Winter mit einem hohen Infektionsrisiko zu rechnen ist.
  • Nach aktueller Datenlage ist anzunehmen, dass neutralisierende Antikörper einen guten Surrogatparameter für den Impfschutz darstellen, obgleich auch die T-Zell-Antwort eine wichtige Rolle in der Verhinderung schwerer Krankheitsverläufe spielt. Neutralisierende Antikörper, insbesondere mit Neutralisation der Deltavariante und anderer „variants of concern“ (VOC), sind nicht routinemäßig messbar. Allerdings zeigt sich eine gute Korrelation zwischen anti-S-IgG bzw. anti-S1-IgG und dem Neutralisationstiter. Anti-S-Antikörper lassen sich im Routinelabor bestimmen. Eine Antikörperbestimmung nach Impfung wird bislang nicht generell empfohlen, da die Vergleichbarkeit der unterschiedlichen Nachweisverfahren noch nicht gegeben ist und allgemein etablierte cut-off Werte bislang noch fehlen. Jedoch ist das Fehlen von anti-S-Antikörpern nach vollständiger Impfserie ein deutlicher Hinweis auf eine unzureichende Impfantwort bei Personen unter immunmodulierender Therapie.
  • Für Menschen mit MS, die mit Immuntherapeutika behandelt werden, die die Impfantwort beeinträchtigen – was zum jetzigen Zeitpunkt insbesondere für Ocrelizumab und S1P-Modulatoren mit Daten gezeigt werden konnte – und solchen mit negativem anti-S-Antikörpertest kann sechs Monate nach der zweiten Impfung eine dritte Impfung gegen COVID-19 mit einem mRNA-Impfstoff erwogen werden. Es sei allerdings bemerkt, dass die dritte Impfung nicht zwangsläufig zu einer positiven Antikörperantwort führt.
  • Auch wenn für die dritte Impfung von Risikogruppen noch keine Empfehlung der STIKO vorliegt und damit spezifische medizin-rechtliche Fragen noch offen sind, so lässt sich die Empfehlung aufgrund der derzeitig verfügbaren Evidenz im Rahmen der ärztlichen Fürsorgepflicht rechtfertigen. Zudem konnte gezeigt werden, dass bei organtransplantierten, PatientInnen unter Hämodialyse und immunsuppressiv-behandelten PatientInnen durch eine dritte Impfung die Rate der Antikörper-positiven PatientInnnen von 40% (nach der zweiten Dosis) auf 60% (nach der dritten Dosis) gesteigert werden konnte (9, 10). Darüber hinaus hat sich die Gesundheitsministerkonferenz am 02.08.2021 bereits auf die dritte Impfung von ältere Menschen und Menschen mit Immunschwäche geeinigt, so dass die grundsätzliche Frage einer dritten Impfung für bestimmte Risikogruppen bereits adressiert ist, auch wenn anerkannt wird, dass sich die Situation bei Autoimmunerkrankungen sicherlich besonders darstellt.
  • Es wird davon abgeraten, zugunsten einer dritten Impfung eine laufende MS-Therapie zu unterbrechen oder abzuändern, da die Risiken hierdurch als deutlich höher bewertet werden als der angenommene Nutzen der Impfung.

Es soll nochmals betont werden, dass die Impfkampagne auf eine sehr hohe Impfquote in der allgemeinen Bevölkerung zielt, da hierdurch indirekt auch MS-PatientInnen, die nach Impfung einen möglicherweise geringeren Impfschutz entwickeln, zusätzlich geschützt werden. Im Einklang mit den internationalen Empfehlungen der MSIF müssen Menschen mit MS, die mit Antikörper-verringernden Therapien behandelt werden, keine Antikörper-Antwort aufbauen und von der Therapie profitieren, auf jeden Fall die Schutzmaßnahmen für sich selbst (Tragen von Masken bei Menschenansammlungen, insbesondere in Innenräumen) beachten.

Diese Stellungnahme wurde im Namen des Vorstandes des KKNMS e.V. (Prof. Dr. Ralf Gold, Bochum; Prof. Dr. Bernhard Hemmer, München; Prof. Dr. Martin Kerschensteiner, München; Prof. Dr. Tania Kümpfel, München; Prof. Dr. Ralf Linker, Regensburg; Prof. Dr. Heinz Wiendl (Sprecher), Münster; Prof. Dr. Frauke Zipp, Mainz) sowie der Mitglieder der Task Force Versorgungsstrukturen und Therapeutika des KKNMS e.V. (Prof. Dr. Klaus Berger MPH MSc, Münster; Prof. Dr. Judith Haas, Berlin; Prof. Dr. Aiden Haghikia, Magedeburg;  Dr. Boris Kallmann, Bamberg;  Prof. Dr. Ingo Kleiter, Berg; Prof. Dr. Mathias Mäurer (Sprecher), Würzburg; Dr. Uwe Meier, Grevenbroich; Prof. Dr. Friedemann Paul, Berlin; Prof. Dr. Corinna Trebst, Hannover; Prof. Dr. Hayrettin Tumani, Ulm; Dr. Clemens Warnke, Köln; Prof. Dr. Martin Weber, Göttingen; PD Prof. Dr. Heinz Wiendl, Münster) unter Mitarbeit von Prof. Dr. med. Tino F. Schwarz, Institut für Labormedizin und Impfzentrum, Klinikum Würzburg Mitte und Prof. Dr. Leif Erik Sander, Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Infektiologie und Pneumologie Charité – Universitätsmedizin Berlin verfasst.

  • (1) Earle et al. Vaccine 2021 https://doi.org/10.1016/j.vaccine.2021.05.063
  • (2) Achiron A et. Al. Ther Adv Neurol Disord. 2021 Apr 22;14:17562864211012835
  • (3) Sormani MP et al. Lancet https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3886420
  • (4) Bar-Or A et al.  Neurology. 2020 Oct 6;95(14):e1999-e2008.
  • (5) Bernal et al. NEJM 2021 DOI: 10.1056/NEJMoa2108891
  • (6) Abu Raddad LJ et al. 07 May 2021; DOI: 10.1056/NEJMc2104974)
  • (7) Bergwerk M. et al. NEJM 2021, DOI: 10.1056/NEJMoa2109072)
  • (8) Brosh-Nissimov T. et al. CMI 2021 https://doi.org/10.1016/j.cmi.2021.06.036
  • (9) Kamar N et al. NEJM June 23, 2021 DOI: 10.1056/NEJMc2108861
  • (10)  Frantzen L et al. Nephrology Dialysis Transplantation, gfab224, https://doi.org/10.1093/ndt/gfab224

Das Krankheitsbezogene Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) ist eines von bundesweit 21 Kompetenznetzen in der Medizin, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung initiiert wurden. Sie alle verfolgen das Ziel, Forscher zu spezifischen Krankheitsbildern bundesweit und interdisziplinär zu vernetzen, um einen schnellen Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis zu ermöglichen. Der Fokus der aktuellen KKNMS-Projekte liegt auf der langfristigen Verbesserung der MS-Diagnose, -Therapie und -Versorgung. Die Geschäftsstelle ist am Universitätsklinikum Münster angesiedelt.

1952/1953 als Zusammenschluss medizinischer Fachleute gegründet, vertritt die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) die Belange Multiple Sklerose Erkrankter und organisiert deren sozialmedizinische Nachsorge. Die DMSG mit Bundesverband, 16 Landesverbänden und etwa 800 örtlichen Kontaktgruppen ist eine starke Gemeinschaft von MS-Erkrankten, ihren Angehörigen, fast 4.000 ehrenamtlichen Helfern und 276 hauptberuflichen Mitarbeitern. Insgesamt hat die DMSG fast 43.000 Mitglieder. Mit ihren umfangreichen Dienstleistungen und Angeboten ist sie heute Selbsthilfe- und Fachverband zugleich, aber auch die Interessenvertretung MS-Erkrankter in Deutschland. Schirmherr des DMSG-Bundesverbandes ist Christian Wulff, Bundespräsident a.D.

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems (Gehirn und Rückenmark), die zu Störungen der Bewegungen, der Sinnesempfindungen und auch zur Beeinträchtigung von Sinnesorganen führt. In Deutschland leiden nach neuesten Zahlen des Bundesversicherungsamtes mehr als 250.000 Menschen an MS. Trotz intensiver Forschungen ist die Ursache der Krankheit nicht genau bekannt.

MS ist keine Erbkrankheit, allerdings spielt offenbar eine genetische Veranlagung eine Rolle. Zudem wird angenommen, dass Infekte in Kindheit und früher Jugend für die spätere Krankheitsentwicklung bedeutsam sind. Welche anderen Faktoren zum Auftreten der MS beitragen, ist ungewiss. Die Krankheit kann jedoch heute im Frühstadium günstig beeinflusst werden. Weltweit sind schätzungsweise 2,8 Millionen Menschen an MS erkrankt.